Interview

Blue-Collar-Mitarbeitende
werden Datenspezialisten

Die Mercedes-Benz AG befindet sich mitten in der Transformation. Das Unternehmen investiert viel in Forschung und Entwicklung, aber auch in modernste Produktions- und Arbeitsweisen. Voraussetzung dafür sind digitale Kompetenzen und Lernbereitschaft auf allen Qualifikationsebenen. Ein Baustein dabei ist das Qualifizierungsprogramm D.SHIFT, mit dem der Hersteller von Premium-Fahrzeugen Beschäftigte in der Produktion zu Datenspezialisten umschult. Sofia Stauber, Leiterin Strategische Ausrichtung & Transformation, hat das Programm entwickelt und erzählt, wie es funktioniert und worauf es bei der Weiterentwicklung von Blue-Collar-Kräften ankommt. 

Sofia Stauber, Leiterin Strategische Ausrichtung & Transformation, Mercedes-Benz Operations 

Seit wann gibt es D.SHIFT? 
D.SHIFT wurde 2021 ins Leben gerufen. Hintergrund ist, dass wir unsere Mitarbeitenden fit machen möchten für die zunehmend digitale und datengestützte Zukunft in der Automobilindustrie. Wir haben im Werk in Berlin angefangen. Dort haben wir in der Produktion Kolleginnen und Kollegen gesucht, die Interesse an digitalen Themen haben und bereit sind, sich auf einen neuen beruflichen Weg zu begeben. 

Sie können sich vorstellen, da gibt es verschiedene Herausforderungen: Bei digitalen Themen sind Englischkenntnisse Voraussetzung. Und eine Umschulung bedeutet für Blue-Collar-Kräfte, nach vielen Jahren den Job an der Linie gegen einen PC-Arbeitsplatz zu tauschen. Ich gebe es zu: Am Anfang waren meine Kolleginnen und Kollegen skeptisch, ob unser Angebot Anklang findet.
Wie haben Sie geeignete Personen gefunden? 
Wir haben eine „Digital Challenge“ aufgesetzt, um digital affine Beschäftigte zu finden, die sich für eine Zukunft als Datenspezialist interessieren. Zunächst haben wir die Kolleginnen und Kollegen eingeladen, sich bei uns zu informieren. Wir haben ihnen erklärt, worum es bei der Umschulung geht und dass sie zum Beispiel Programmieren mit Python oder C++ lernen werden – Skills, die wir heute und in der Zukunft dringend brauchen. Interessierte mussten dann online Fragen auf Englisch beantworten. Alle, die das zuvor definierte Level erreichten, haben wir zu einem Auswahlgespräch eingeladen.  
Wie geht es danach weiter?
Wir bieten vier sogenannte „Lernpfade“ an: Data Product Owner, Data Analyst, Data Engineer und Data Scientist. Der Data Product Owner steuert beispielsweise Datenprojekte, Data Engineers erwerben tiefgehende Kenntnisse in Datenanalyse und Programmierung. Die Umschulung dauert insgesamt 9-12 Monate.

Teilnehmende brauchen zum Einstieg keine tiefgehenden Vorkenntnisse. Wir vermitteln ihnen zunächst die IT-Grundlagen und Verständnis für digitale Tools und Techniken. Danach folgt die vertiefende Lernphase in der gewählten Fachrichtung. Hier wechseln sich praxisorientierte mit reinen Lernphasen ab. Wir haben festgestellt, dass die Bearbeitung konkreter Anwendungsfälle sehr wichtig ist. Sie motivieren die Teilnehmenden enorm, denn hier können sie das Gelernte direkt anwenden und die digitalen Kenntnisse verbinden sich mit ihrem Produktionswissen. Im Lernprozess stehen wir ihnen unterstützend zur Seite.     

Bei der Entwicklung der Lerninhalte haben wir uns zusammen mit den Fachabteilungen immer gefragt, was Teilnehmende am Ende können müssen und welche Fähigkeiten wir in Zukunft brauchen. Das prüfen wir bei jedem Durchgang neu und in diese Richtung entwickeln wir die Teilnehmenden.
Wann lernen die Beschäftigten?
Das Programm läuft nebenberuflich, d.h. sie arbeiten weiter an der Linie, aber an zwei von fünf Tagen sind die Kolleginnen und Kollegen freigestellt. Die Zeiteinteilung handhaben wir flexibel, die Mitarbeitenden besprechen sie mit ihren Meistern. Aber natürlich müssen die künftigen Datenspezialisten auch Freizeit investieren.
Wie geht es nach D.SHIFT weiter?
Ich kann ein Beispiel nennen: Ein Teilnehmer war lange Maschinenführer. Er hat 2021 in Berlin an D.SHIFT teilgenommen. Nach seiner Umschulung zum Junior-Softwareentwickler ist er im ersten Job im Digital Factory Campus eingestiegen, unserem Kompetenzzentrum für Digitalisierung. Heute entwickelt er bei unserer Software-Tochter MBition Dashboards und führt Datenanalysen für Führungskräfte durch. Ein anderes Beispiel ist ein Kollege, der früher in der Gießerei gearbeitet hat und jetzt in der Factory 56 in Sindelfingen gelandet ist. Das ist unsere modernste Fabrik. Dort analysiert er als Data Specialist Fahrwerksdaten unserer Fahrzeuge.  
Wie viele Personen haben das Programm schon absolviert?
D.SHIFT hat sich einen Namen gemacht und inzwischen haben mehr als 100 Mitarbeitende erfolgreich teilgenommen. Wir sind in Berlin 2021 mit elf Personen klein gestartet und in der zweiten Phase haben wir in Stuttgart-Untertürkheim mit 22 Teilnehmenden weitergemacht. Für die 22 Plätze haben sich dann schon mehrere Hundert Interessierte gemeldet. Seitdem fing jährlich eine Gruppe an. Am Ende des Programms wechseln alle in zu Beginn definierte und festgelegte Zielstellen.

Alle, die das Programm erfolgreich abschließen, werden in unser D.SHIFT Alumni-Netzwerk aufgenommen. Das ist eine Gruppe, die sich sehr aktiv austauscht, gegenseitig unterstützt, trifft und neue Ideen diskutiert.  
Welches sind die wichtigsten Erfolgsfaktoren?
Es gibt mehrere: Menschen, die lange im gleichen Job waren, müssen das Lernen erst einmal wieder für sich entdecken. Das gilt erst recht für eine so große Veränderung. Wir müssen die Mitarbeitenden deswegen besonders motivieren, an die Hand nehmen und unterstützen. Wir definieren schon vor Beginn Zielstellen für sie, so haben sie immer ein konkretes Ziel vor Augen.

Um erfolgreich zu qualifizieren, braucht man ein gutes Konzept und einen sehr guten Lernpfad. Nur wenn man sich in die Menschen hineinversetzen kann, ist es möglich, ein gutes Programm zu entwickeln. 

Was in meinen Augen auch wichtig ist: Für die Bewerbung ist keine Empfehlung der Führungskraft erforderlich. Denn wir wollen motivierte Kolleginnen und Kollegen fördern, die ihre Entwicklung selbst in die Hand nehmen. Die ehemaligen D.SHIFTler sind heute diejenigen, die in Projekten sagen, wir müssen die Prozesse schlank halten, vereinfachen und lass uns mal gemeinsam eine Lösung finden. Die Diversität, die sie in die Teams bringen, hilft uns als Unternehmen sehr. 

 

Turn2Learn und D.SHIFT

Mit der Digitalisierung und dem zunehmenden Einsatz leistungsfähiger Künstliche Intelligenz (KI)-Systeme verändern sich bei Mercedes-Benz alle Jobprofile. Im Rahmen der Qualifizierungsinitiative Turn2Learn investiert Mercedes-Benz von 2022 bis 2030 weltweit mehr als zwei Milliarden Euro in die Qualifizierung der Beschäftigten. Turn2Learn legt einen gezielten Schwerpunkt auf Digitalisierung und KI. 2024 gab es weltweit rund 150.000 Teilnahmen an Schulungen zu künstlicher Intelligenz und IT-Themen wie Software, Coding und Cyber Security. D.SHIFT ist das Programm im Konzern, mit dem sich Beschäftigte aus der Produktion zu Daten- und KI-Fachkräften weiterbilden können.